Die heutige Zeit mit ihrem Drang nach Schnelllebigkeit, Effizienzsteigerung und Produktivitätsfetischismus gibt einem ja nicht selten das Gefühl, mehr sei immer mehr. Schwierig ist es, da noch den Blick auf die lange Sicht zu behalten, sich auch einmal in Zurückhaltung zu üben. Manchmal hilft dabei die Musik, insbesondere die klassische. Das Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchester im Rahmen der Reihe «Symphonic Gems» der Allgemeinen Musikgesellschaft (AMG) am 16. Oktober 2024 im Stadtcasino war wieder einmal ein gelungenes Beispiel dafür, dass sich Zurückhaltung, Selbstbeherrschung und ein Gefühl für grössere Zusammenhänge doch oft lohnen.
Mit leichter Verspätung – à propos Zurückhaltung – kam das Orchester auf die Bühne, dicht gefolgt von Chefdirigent Alan Gilbert und Yefim Bronfman, dem Solisten beim ersten Programmpunkt, Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 in d-Moll, op. 30. Wer sich regelmässig im Stadtcasino aufhält, bemerkte schnell, dass das NDR Elbphilharmonie Orchester nicht in der üblichen amerikanischen Aufstellung formiert war – also mit den tiefen Streichern auf der rechten Seite aus Publikumssicht –, sondern in der deutschen, bei der die Geigen auf beiden Seiten der Bühne die vordersten Reihen einnehmen. Diese Formation war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich, ist heute aber nicht mehr oft anzutreffen. Und natürlich hat sie Einfluss auf den Gesamtklang – grundsätzlich ist dieser dadurch etwas feiner abgerundet und weniger brachial, da, vereinfacht gesagt, die tieferen Klänge von weiter hinten kommen.
Das NDR Elbphilharmonie Orchester jedenfalls präsentierte ein selten gehörtes, weiches und gleichzeitig feingeschliffenes Klangbild, das wunderbar zur latenten Mystik der Musik Rachmaninows passte. Bronfman spielte sehr konzentriert und sorgfältig – auch die einfachsten Phrasen behandelte er mit grösster Aufmerksamkeit und Hingabe und zeigte feinstes dramaturgisches Gespür. Bei der Kadenz im 1. Satz fuhr er das System zum ersten Mal richtig hoch und hämmerte auf den Flügel ein, um nur einige Takte später fliessend in tiefe Zärtlichkeit zu wechseln – fast so, also würde er sich beim Flügel für seinen vorherigen Ausbruch entschuldigen wollen. Bronfman liess auch in der Folge seine ganze Klasse und Erfahrung durchscheinen und meisterte Rachmaninows 3. Klavierkonzert mit Bravour: Nach einem regelrechten und tief beeindruckenden, durch langen Spannungsaufbau im Effekt verstärkten Schlussfeuerwerk gab es im Stadtcasino grosse und stehende Ovationen für eine fantastische Interpretation von Solist und Orchester. Bronfman legte noch einen Rachmaninow drauf – das marschhaft klingende g-Moll-Präludium –, bevor er das Publikum in die Pause schickte.
Im zweiten Teil widmete sich das NDR Elbphilharmonie Orchester der Sinfonie Nr. 4 in f-Moll, op. 36 Tschaikowskis. Von der ersten Sekunde und dem fanfarenartigen Hauptmotiv zeigte sich dabei das Blech von der besten Seite – nur das ohrenbetäubende Forte im 4. Satz grenzte an zu viel des Guten. Auch die Holzbläser konnten sich in den kürzeren Solo-Passagen profilieren, besonders das erste Fagott überzeugte durch brillante Melodiegestaltung und feinste Klangnuancierung. Die Streicher traten vor allem im dritten Satz durch das stimmig umgesetzte «Pizzicato ostinato» hervor. Alan Gilbert dirigierte mit höchster Präzision, ohne sich dabei in den Vordergrund zu stellen.
Das NDR Elbphilharmonie Orchester hat es – vielleicht besser als die meisten Orchester – verstanden, einen klangdramaturgischen Bogen zu spannen, der ihre Auftritte auch bei längerer Dauer kurzweilig macht. Es hält sich insbesondere bezüglich Dynamik gezielt zurück, um dann im richtigen Moment fortissimo loszulassen; die Kontraste werden geduldig ausgearbeitet, um den vollen Stimmungsgehalt der Musik hervorzubringen. So zeigte das Konzert am 16. Oktober 2024 letztlich schön auf, dass uns Musik – und vor allem gut gespielte – viel für das Leben lehren kann: Der Blick in die Weite und auf das Ganze ist eine Qualität, deren sorgfältige Pflege nicht vergebens ist.
Hinterlassen Sie einen Kommentar