Was, wenn die Welt von einer Frau beherrscht würde? Die Frage, ein schönes Gedankenexperiment, besonders in Zeiten, in denen die Geschicke der Welt gefühlt hauptsächlich von narzisstischen Männern gelenkt werden. Auch im Mittelalter waren die Herrscher männlich, aber es gab noch eine, die im Volksglauben darüberstand: die Schicksalsgöttin Fortuna. Ihr Rad konnte sich jederzeit drehen und aus einem König einen Bettler, und aus einem Bettler einen König machen.
Bekannt ist die Imperatrix Mundi heute vor allem durch den dramatischen Rahmen von Carl Orffs szenischer Kantate «Carmina Burana», einer Vertonung verschiedener Gesänge aus dem mittelalterlichen Codex Buranus in mittelateinischer und mittelhochdeutscher Sprache. Orffs Komposition bildete am 9. Juni 2025 das Grande Finale der Internationalen Orgeltage Zürich, mit einem ausverkauften Konzert in der Grossen Tonhalle. Verantwortlich für die Aufführung war ein gigantisches Team mit über 200 Beteiligten aus Musiker*innen, Solo-Sänger*innen, einem grossen Chor und Regie: Geleitet von Dirigent Tobias Stückelberger und Organistin Babette Mondry, sangen der Junge Kammerchor Basel, der Seefelder Kammerchor, der Chor des Gymnasiums Unterstrass, der Chor der Kantonsschule Wohlen sowie die Singschule MKZ Uto; die Solist*innenrollen waren besetzt mit Jardena Flückiger (Sopran), Yulian Schmidlin (Countertenor) und Yannick Debus (Bariton). Es spielte ein Perkussionsensemble, bestehend aus Klaus Schwärzler, Solo-Schlagzeuger beim Tonhalle-Orchester und Professor der Schlagzeugklasse an der ZHdK, Benjamin Förster, Solo-Pauker im Tonhalle-Orchester, und Schüler*innen der Klasse von Schwärzler. Die restlichen Orchesterklänge, die man bei einer «Carmina Burana» erwarten würde, imitierte Mondry allesamt von der Orgel aus – mit viel Aufwand hat sie die originale Partitur extra für die Tonhalle-Orgel adaptiert. Dass man während des Konzerts gar nicht so sehr darüber nachdachte, dass da ja normalerweise ein Orchester spielt, spricht einerseits für die grosse Sorgfalt und Kompetenz, mit der Mondry gearbeitet und gespielt hat, und andererseits natürlich für das erstklassige Instrument in der Tonhalle. Doch bei der Musik allein blieb es nicht: Wie eigentlich von Orff vorgesehen, gab es in der Tonhalle auch zahlreiche szenische Elemente – Regie führte Mélanie Huber. Das Konzert war eine Kooperation zwischen den Internationalen Orgeltagen Zürich und dem Verein vokal:orgel Basel, der das Konzept entwickelt hat. Vor zwei Jahren wurde es in Basel, ebenfalls vor vollen Rängen, erstmals aufgeführt.
So, und nachdem die wichtigsten Beteiligten aufgezählt sind, ist die Hälfte dieser Besprechung auch schon fast rum – und wir gehen, wenn wir schon beim Latein sind, in medias res. Die Bühne stand zu Beginn nämlich noch ohne Chor da, dieser begab sich erst allmählich summend und vokalisierend – und in verschiedenen Rot-Tönen gekleidet – durch den Publikumsraum nach vorne. Dort angekommen, ging das Einsummen fliessend in das Vorspiel über: «O curas hominum» von Jonas Marti, der damit einen anderen Text aus dem Codex Buranus neu vertonte. Begleitet von Carolin Sophie Margraf an der Harfe, traten drei Sänger*innen aus dem Chor hervor, um solo vorzutragen. Ein gelungener Einstieg im spätmittelalterlichen Stil, mit gewissen Vorwegnahmen von tonalen Harmonien aus der Frührenaissance. Und einem Text, der davon handelt, dass die Besitzenden geehrt werden, die Besitzlosen dagegen verachtet – auch das, ein einigermassen zeitloser (und bedauerlicher) Umstand.
Die Uraufführung von Martis Stück wurde attacca gefolgt vom – immer wieder, egal wie oft schon gehört – tief ins Mark dringende Opening von Orff, O Fortuna. Dabei zeigte sich schon, dass die Bühne an diesem Abend voller Bewegung sein würde: Der Chor stand auf, setzte sich, bewegte sich auf und ab, je nach Stimmung des Gesangs. Selbst eine Welle ging zwischenzeitlich durch die grosse Gruppe der jungen Sänger*innen, die mit sichtbarer Freude und Begeisterung am Werk waren.
Was folgte, waren Szenen aus dem (einfachen) Leben der Menschen im 11./12. Jahrhundert – mit allem Freud und Leid, das sie über das Jahr begleitete: das Frühlingserwachen, die Wärme der Sonnenstrahlen im April, die spriessenden Blumen auf den Wiesen, der tanzende Reigen, die feuchtfröhliche Runde in der Schenke, das Liebesspiel. Aber eben auch die Kehrseite der Medaille – verkörpert etwa vom singenden Schwan (Yulian Schmidlin), der, nicht ohne Komik, sein tragisches Schicksal vom stolzen Gleiter auf den Seen zum schwarz angebratenen Nachttisch in der Pfanne beklagte.
Neben Schmidlin überzeugten auch Bariton Debus und Sopranistin Flückiger, die ihre Rollen nicht nur gesanglich einwandfrei, sondern auch spielerisch mit viel Können und Durchschlagskraft auf den Punkt brachten. Natürlich durfte auch ein gewisser Schuss Romantik nicht fehlen.
Mit dem abermaligen Vortrag des Anrufs an die Fortuna schloss die «Carmina Burana» in der Tonhalle. Unter tosendem Applaus wurden die Beteiligten für ihren Einsatz und die beeindruckende Leistung gewürdigt – und liessen sich zu einer kurz-knackigen Zugabe hinreissen: «Des wolt ih mih darben» besingt in kurzen Worten die Macht der Liebe und die Liebe der Macht: «Wäre auch die Welt ganz mein, von dem Meer bis an den Rhein, würde ich ihr gerne entsagen, wenn die Königin von Engelland läge in meinen Armen.» Ein stimmiger Abschluss, der die Frage nach weiblicher Herrschaft noch einmal in den Raum stellte. Spielerisch, aber äusserst anregend, wie der ganze Abend.
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